Brief 99: Wo Johanna aus ihren Jugendtagebüchern vorliest… Tagebuchtag-& Slam!

Liebe Schreibende,

am 12. Juni ist Tag des Tagebuchs. Warum genau an diesem Tag? Am 12. Juni 1942 bekam Anne Frank zu ihrem 13. Geburtstag von ihrem Vater ein Tagebuch geschenkt. Ein bloßes Notizbuch, das sie in den folgenden zwei Jahren akribisch füllte, mit dem sie sprach, sich die Zeit im Versteck vor dem NS-Regime erträglich machte, versuchte sich die Welt, diese grausame und auch die banale und die schöne zu erklären. Bis es dann, ja wir wissen es… traurige Berühmtheit erlangte. Am 12. Juni also erinnern wir uns der magischen Kraft des Tagebuchschreibens, nicht nur in der Jugend, aber auch da. Denn am 12. Juni 2022 wird unsere Trainerin Johanna Vedral wieder öffentlich aus ihren Jugendtagebüchern lesen.  Aus diesem Anlass habe ich mit ihr – fast manische Tagebuchschreiberin seit über 40 Jahren (!), Psychologin, Mit-Herausgeberin des Magazins „SchreibRäume“ und Schreibtrainerin in unserem 1-jährigen Lehrgang Journal Writing Methoden (nächster Start Nov. 2022) ein Gespräch geführt. Auf diesem Foto hier seht ihr Johanna als 14-Jährige…

Ich gratuliere dir, du hast am 26. April 2022 beim Tagebuch-Slam in St. Pölten gewonnen! Was ist denn ein Tagebuch-Slam?
Johanna: Bei einem Tagebuchslam lesen Tagebuchschreiber*innen Originalpassagen aus ihren Teenager-Tagebüchern auf einer Bühne vor und erheitern damit das Publikum. Wie auch bei Poetry Slams entscheidet die Lautstärke des Applauses über die Sieger*in des Abends. Es geht bei einem Tagebuchslam aber nicht darum, sich übereinander lustig zu machen, sondern gemeinsam zu lachen und sich selbst wiederzuerkennen.

Ein Tagebuchslam ist eine aufregende Gelegenheit, das eigene jugendliche Ich auf die Bühne zu holen, in liebevoller Begleitung durch mein erwachsenes, reflektiertes Ich. Hier kann ich mutig mein Teenager-Selbst zeigen, aber nicht vorführen, entblößen oder beschämen, sondern mit liebevollem Zwinkern. Das Publikum geht mit und darf beim Zuhören und befreienden Lachen in eigene Erinnerungen eintauchen: „Ja, das kenne ich! Oh Gott, genauso habe ich mich damals gefühlt und ich dachte, nur mir geht es so

Wie fühlt sich das an auf der Bühne aus den eigenen Jugendtagbüchern vorzulesen? Ich kann mir das ja für mich gar nicht vorstellen…
Johanna: Es fühlte sich für mich in keinster Weise wie ein peinlicher Seelenstriptease an, sondern machte mir so großen Spaß, dass ich zwei Wochen später nach St. Pölten fuhr, um meine innere Rampensau gleich noch mal lesen zu lassen. Das Publikum war großartig und ließ mich spüren, dass ich Passagen ausgewählt hatte, mit denen sie in Resonanz gehen konnten. Dank des frenetischen Applauses gewann ich an diesem Abend und sagte Diana Köhle zu, gerne am 12. Juni 2022 wieder im TAG aufzutreten. Das Tagebuchslamfieber hat mich erwischt! So schöne Bühnenerfahrungen mit wohlwollendem begeisterungsfähigem Publikum tun einfach gut.

Spannend, aber ich überleg´s mir noch, ob das was für mich ist. Wie kam es dazu, dass du bei Tagebuch-Slams vorzulesen begonnen hast?
Johanna: 2019 habe ich mich bei Lesungen aus meinem autofiktionalen Roman „Freiheit, du wildes Tier“ schrittweise angenähert, autobiografische Texte auf die Bühne zu bringen. Ich bat Diana Köhle, für das erste Heft der SchreibRäume (Magazin für Journal Writing, Tagebuch und Memoir) einen Beitrag über den Tagebuchslam zu verfassen.
Diana lud mich ein, am 22. März 2020 erstmals auf die Bühne zu kommen… das war der erste Tagebuchslam, der in ein Lockdown-Loch fiel. Einige Tagebuchtexte von mir landeten aber in Dianas Buch „Verliebt (später nicht mehr). Das Beste aus 7 Jahren Tagebuchslam“ (2020). Es folgten einige weitere Verschiebungen, aber am 10. April 2022 war es endlich soweit, und ich las das erste Mal im TAG aus meinen Tagebüchern 1981.  

Seit wann gibt es denn Tagebuchslams?
Johanna: Tagebuchslams gibt es seit 2005: Sarah Brown veranstaltete die erste Cringe Night  in Brooklyn, NY. Im deutschsprachigen Raum starteten  Ella Carina Werner und Nadine Wedel den ersten Diary Slam 2007 in Berlin. Weitere deutsche Städte folgten. Seit 2013 veranstaltet Slammasterin Diana Köhle Tagebuch-Slams in Österreich. Sie formuliert das Motto des Tagebuchslams so: Eine peinlich-lustige Zeitreise in die Abgründe der eigenen und fremden Pubertät. Ehrlich, berührend, schonungslos, betrübt, übertrieben, sehnsüchtig, haltlos und unverstanden. So sind unsere Tagebucheinträge aus dieser wilden und unberechenbaren Zeit des Erwachsenwerdens. Wir lachen nicht übereinander, sondern miteinander.

Slams sind die ja für das intime Genre des Tagebuchs eher eine Ausnahme. Journals sind üblicherweise ein „room of ones´s own“ (Virginia Woolf), den niemand anderer betreten darf. Du bist ja nicht nur Schreibtrainerin und Tagebuchschreiberin seit Jahrzehnten, sondern auch Psychologin. Wie kannst du uns erklären, warum das Schreiben für sich/Journaling derartig befreiend, erleichternd, ja sogar heilsam ist?
Johanna: Auch wenn ich ein paar ausgewählte Passagen aus Teenagertagebüchern vorgelesen habe, ist mir die intime private Funktion eines Tagebuchs heilig, seit über 40 Jahren! (Im Foto ein Teil meiner gesammelten Tagebücher..) Durch diesen Schutzraum/ Möglichkeitsraum konnte ich mir die Person erschreiben, die ich jetzt bin. Auf tausenden Seiten habe ich meine Erfahrungen reflektiert, Entscheidungsprozesse gewälzt, Träume gesammelt, gejammert, geschwärmt, gebeichtet, gelästert, Briefe entworfen, interessante Zitate notiert, Rohtexte für Geschichten geschrieben, Ideen gesammelt, usw. usf.

Schreiben gilt als wichtiger Resilienzfaktor, um schwierige Zeiten zu durchstehen. Im Tagebuch können wir in einem geschützten Raum openmindedness und Flexibilität kultivieren, wir können Dampf ablassen und Klarheit erlangen. In diesem Raum können wir uns ausprobieren, neu erzählen und reflektieren, neue Perspektiven einnehmen und die unausweichlichen Transformationen in unserem Leben vorbereiten. Identität ist ja nichts, das irgendwann fertig ist, sondern ein lebenslanger Selbstgestaltungsprozess: Wir erzählen uns selbst laufend neu. Im Journal schulen wir auch unsere Fähigkeit zur Ich-Distanz und vertiefen Lernerfahrungen durch Metakognition (Nachdenken über das eigene Denken und Lernen). Und ganz nebenbei verbessern wir unseren schriftlichen Ausdruck.

Das hast du super auf den Punkt gebracht. Viva la Tagebuch! Am Tagebuchtag 2022, also am 12. Juni, was wirst du da machen?
Johanna: Ich freue mich darauf, bereits zum dritten Mal auf der Tagebuchslambühne zu stehen, diesmal wieder im TAG Theater in Wien. Da ich auf dieser Bühne schon aus den Tagebüchern 1981 gelesen habe, werde ich neue Passagen heraussuchen, in denen es über Zahnspange, Physikstunden und erste Küsse hinaus geht… Das wird aufregend und wieder meine Komfortzone stretchen :-) Ich freue mich natürlich auch, wenn viele neugierige Menschen in die Gumpendorferstraße 67 kommen, um mit tosendem Applaus das TAG Theater zu rocken! Start 19 Uhr.

Du hast gemeinsam mit Birgit Schreiber und mir unseren phänomenalen Lehrgang „Journal Writing Methoden“ konzipiert. Was ist das Besondere daran für dich? (Start Nov 2022)
Johanna: Im Lehrgang vermitteln wir nicht nur, wie, warum und in welchen Kontexten persönliches Schreiben hilft, sondern auch, wie Journal Writing so angeleitet werden kann, dass es die Tagebuchschreiber*innen für ihre Weiterentwicklung optimal nutzen können. Dabei schöpfen wir aus einer großen Fülle aus amerikanischen und europäischen Methoden, die unsere erfahrenen Trainer*innen in dieser Weise erstmalig für den deutschen Sprachraum aufbereitet haben. Wie in allen unseren Lehrgängen erproben die Teilnehmer*innen eine große Bandbreite an Schreibübungen selbst, z.B. in meinem „Collage Dream Writing“-Workshop wie man sich beim Wechsel zwischen Collagen und persönlichem Schreiben stets auf Neue von sich selbst überraschen lassen kann…

Zum Schluss noch: Was empfiehlst du Menschen, die (fast) noch nie Tagebuch geschrieben haben oder mal eine neue Inspiration brauchen?
Johanna: Schenke dir selbst schöne Momente und beginne mit einer kreativen Liste: Schreib in Stichwörtern schöne Kindheitserinnerungen oder stärkende Erfahrungen untereinander. Danach wähle einen Punkt aus und mach dazu ein Freewriting (10 Minuten). Beginne mit „Ich erinnere mich…“ und lass dich überraschen.

Danke, liebe Johanna, ich hoffe, dass ich am 12. Juni zu deiner Tagebuch-Lesung kommen kann.
Ob Winter oder Sommer, ob Lockdown oder Corona-Pause, ob in Wien oder in New York (Flug ist gebucht!), ob Frieden oder Krieg, ich schreibe jedenfalls weiterhin jeden Tag meine Morgenseiten, mein Visual Diary.
Was schreibst du um deine Welt zu sortieren?

Judith

PS: Kommt zum Zoom-Infoabend für unseren Journal Writing Methoden-Lehrgang am Mi, 22. Juni um 19 Uhr!

PPS: Sommerkurse jetzt buchen: Feministisch journalistisch, Comics/Mangas/Graphic Novels, Kinderbuch schreiben, Roman/Krimi entwickeln, Humor Writing, Life Writing und unsere Retreats im Burgenland, in Retz oder in Wien Margareten.

AKTUELL IM WRITERS´STUDIO

1. Restplätze Mai & Juni für Zoom- & Präsenz-Workshops

2. Vorschau für TIP-Absolvent*innen

3. Kostenlose Infotermine & Infoabende

  • Mi, 8. Juni, 18 Uhr: Zoom-Infoabend zum Lehrgang TIP – Schreibtrainer*in werden
  • Mo, 13. Juni, 19 Uhr: Zoom & Präsenz-Infoabend für den Lehrgang Passion Writing sowie einzelne Seminare aus dem Bereich
  • Mo, 13. Juni, 19 Uhr: Zoom-Infoabend für „Frei Geschrieben“ sowie „Frei Geschrieben für Doktorand*innen
  • Mo, 20. Juni, 19 Uhr: Zoom-Infoabend für den Lehrgang sowie Seminare aus dem Bereich Schreibkompetenz f. Business

4. Schreibtreffs

Fotos: Johanna Vedral